Die Exotik Äthiopiens, made in Switzerland

Isabelle Buesser – 05. Dezember 2024
In Lausanne bieten Daniel und Tigest Alemu in ihrem Restaurant Le Nil Bleu ein authentisches äthiopisches Kulinarikerlebnis an. Dabei setzen sie auf lokale Produkte und hausgemachte Zubereitungen, die für jeden Gaumen geeignet sind.

Zwischen afrikanischen Aromen und lokalen Produkten

In den Küchen des Le Nil Bleu wird alles selbst gemacht. «Ich lasse die Produkte, die es hier nicht gibt, direkt aus Addis Abeba kommen, wie das Teffmehl oder die Gewürze», erklärt der Wahl-Waadtländer. Für alle anderen Zutaten versucht er, so viel wie möglich mit lokalen Produzenten zu arbeiten. «Die Kunden fragen immer häufiger, woher die Produkte kommen.» Auch das Fleisch stammt überwiegend aus der Schweiz, aber beim Lamm musste Daniel eine Wahl treffen: «Der Preis für Schweizer Lamm ist für uns zu hoch. Wenn ich die Kunden nicht mit überteuerten Gerichten vergraulen will, muss ich ein paar Zugeständnisse machen.»

Besondere Aufmerksamkeit wird im Le Nil Bleu den Getränken gewidmet. Das Erlebnis beginnt mit einem hausgemachten Tej, einem typischen Honigwein, der als Aperitif gereicht wird, und endet mit der traditionellen Kaffeezeremonie. «Die Gäste bestellen den Kaffee bereits zu Beginn des Essens, da wir ihn vor Ort rösten. Das ist sehr zeitaufwendig», erklärt er.

Für die Kaffeezeremonie kauft das Wirtepaar äthiopische Rohkaffeebohnen ein, röstet sie und zerdrückt die Bohnen mit einem Stössel vor Ort, während die Gäste ihr Essen geniessen. Neben diesen beiden traditionellen Getränken bietet Tigest auch Schweizer Wein, Lausanner Kombucha, Genfer Ingwerlimonade und äthiopische Biere an, die im Appenzellerland aus afrikanischen Getreidesorten nach den Brautraditionen der alten Ägypter hergestellt werden. «Ich arbeite gerne mit lokalen Produzenten zusammen. Die meisten Getränke, die wir servieren, werden von Leuten hergestellt, die wir kennen und die auch unsere Kunden sind.»

Mietschock im Jahr 2019

Dieses Qualitätsangebot, das äthiopische Traditionen mit lokalen Produkten verbindet, bewährt sich. In den ersten 13 Be­triebsjahren bauet sich das Le Nil Bleu einen soliden Ruf auf und blickte gelassen in die Zukunft. Doch 2019 der Schock: Das Gebäude, in dem das Restaurant untergebracht ist, wird verkauft, und der neue Besitzer erhöht die Miete um 2000 Franken pro Monat. «Das war für uns nicht mehr tragbar, so sind wir im Juli 2019 in das neue Lokal umgezogen. Einige Stammgäste sind uns gefolgt, aber jene, die nebenan arbeiteten haben sich mittags an näher gelegene Lokale gewandt. Wir mussten also einen Teil unserer Kundschaft neu aufbauen, und das geht nicht von heute auf morgen», so Daniel.

Ein erster schwerer Schlag für das Ehepaar, das wie alle in der Branche einige Monate später den zweiten erleben musste: die Coronapandemie und ihre Massnahmen. «Es war sehr schwierig, wir kämpften gerade darum, wieder schwarze Zahlen zu schreiben, als die Pandemie kam. Wir haben viel Geld verloren.» Es häuften sich für das Ehepaar Alemu Schulden an, die sie bis heute abbezahlen. «Zudem haben sich die Gewohnheiten der Gäste geändert, sie kommen mittags weniger ins Restaurant, und ihre Kaufkraft ist gesunken. Zudem ist es sehr schwierig, vorausschauend zu planen.»

Doch Tigest und Daniel Alemu geben nicht auf. Um die finanziellen Herausforderungen zu meistern und die Schulden aus der Covidzeit zu tilgen, verkleinerten sie ihr Team und arbeiten nun nur noch zu zweit: Tigest bedient die Gäste und Daniel kocht. «Da ich allein bin, muss ich immer auf das Unvorhersehbare vorbereitet sein. Ich muss in der Lage sein, mittags ein volles Restaurant zu führen, ohne die Mise en Place wegwerfen zu müssen, falls die Gäste ausbleiben», sagt Daniel. So bereitet der Koch im Vorfeld immer eine hausgemachte Suppe mit saisonalem Gemüse zu. «Damit kann ich die Gäste etwas hinhalten, wenn ich ein Gericht erneut auf den Weg bringen muss.» Um die Personallücken zu schliessen, helfen ihre drei Kinder aus, wenn es ihre Ausbildung zulässt. Und um wieder einen festen Kundenstamm aufzubauen, setzen sie ebenso auf die junge Alemu-Generation, die kleine Videos produziert und damit die sozialen Netzwerke füttert.

Addis Abeba

Yohanes und Asnaqech Zelek: «Wir haben Gäste, die kommen jeden Tag. Sie gehören schon fast zur Familie.» (Bild: Corinne Nusskern)

«Unser Essen ist ganz anders, und Schweizer probieren gern Neues»

Es ist unübersehbar: Quer durch die Schweiz öffnen immer mehr Betriebe mit äthiopischen und eritreischen Spezialitäten – ob kleiner Take-away oder grosses Restaurant. Wie etwa das Addis Abeba von Asnaqech und Yohanes Zelek beim Zürcher Stauffacher.

Text: Corinne Nusskern

Wer zum ersten Mal ins Restaurant Addis Abeba tritt, fühlt sich sogleich herzlich willkommen, und beim zweiten Mal schon fast wie bei Freunden. Es ist diese warme Gastfreundschaft von Asnaqech (37) und Yohanes (45) Zelek, die einen sofort einhüllt. Erst im Mai dieses Jahres hat das Ehepaar ihren eigenen Gastrobetrieb (60 Plätze) beim Zürcher Stauffacher eröffnet. «Ich wollte immer ein Restaurant mit traditioneller äthiopischer Küche, aber ein gutes», sagt Asnaqech lachend. Sie hat in Addis Abeba die Hotelfachschule absolviert, und Kochen ist seit jeher ihre Leidenschaft. «Ein eigener Betrieb war immer mein Traum.»

Doch der Weg dahin war lang. Beide sind in Addis Abeba aufgewachsen, und kamen unabhängig voneinander vor gut 20 Jahren als Kriegsflüchtlinge via den Sudan und Italien in die Schweiz. Sie haben sich erst hier kennengelernt. «Am Anfang war es schwierig, wir lebten im Asylheim», erzählt er. Asnaqech erhielt nach vier Jahren die F-Bewilligung, bei ihm dauerte es länger. Seit sie darf, arbeitet Asnaqech in der Gastronomie, erst in Genf, dann in diversen Betrieben in Zürich. Yohanes findet eine Anstellung in einer Transportfirma und steht viele Jahre in der Küche des Zürcher Zunfthauses zur Schmiede. Inzwischen sind sie längst hier zu Hause, leben in Wetzikon ZH, haben zwei Kinder und den Schweizer Pass. «Für mich ist die Schweiz das Beste, es ist ein so schönes Land», sagt Asnaqech.

Alles wird im Mesob serviert

Sie haben auch keine Antwort darauf, warum es plötzlich überall äthiopische Restaurants gibt. Oft sind es äthiopisch-eritreische Restaurants. Die beiden Länder bildeten früher einen Staat, erst 1993 spaltete sich Eritrea ab. Deswegen seien sowohl die Traditionen wie das Essen genau gleich. «Ich finde es gut! Denn unser Essen ist ganz anders», freut sich Asnaqech. «Und die Schweizer probieren gern Neues aus.»

Zusammen mit einer weiteren Küchenmitarbeiterin und einer Aushilfe kochen und servieren Zeleks im hellen Ambiente ihres Restaurants das äthiopische Nationalgericht Doro Wet: Pouletschenkel und gekochte Eier an einer Zwiebel-Tomaten-Sauce mit leicht scharfer Berbere-Gewürzmischung. Aber auch Kitfo, das vor allem bei ihren Landsleuten beliebte Rindstatar mit Mitmita, einer Gewürzmischung aus Chili, schwarzem Kardamom, Knoblauch, Schwarzkümmel, Ingwer und dazu Gewürzbutter. Und Yebeg Tibs, in gewürzter Butter gebratenes Lammfleisch. Vegetarier freuen sich an Gerichten mit Kirchenerbsen, roten Linsen, gelben Erbsen, Spinat, Randen, Kartoffeln, Kabis oder gemischtem Salat.

Schweizer und Europäerinnen lieben vor allem den Addis-Abeba-Mix, assortierte vegetarische oder nicht vegetarische Gerichte (ab 2 Personen für 75 Franken). «Die Mixplatte gibt einen guten Überblick über unsere Spezialitäten», so Asnaqech. Wie alle Gerichte, wird auch die Mixplatte im typischen Mesob serviert, einem Bastbehälter, der wie ein Hut aussieht und dessen Basis als Teller-Untersatz dient.

Injera von der Mama

«Die äthiopische Küche muss man als Familienessen verstehen, die Gerichte werden geteilt», erklärt Yohanes. «Und wir essen von Hand.» Deswegen ist das Injera unerlässlich: Das gerollte Sauerteigfladenbrot, das Westler aufgrund der Textur oft an einen Schwamm erinnert. Es wird aus dem glutenfreien Teff hergestellt, einer Zwerghirse aus der Familie der Süssgräser.
Doch ihr Injera ist ganz besonders: Die Fladenbrote werden von Asnaqechs Mutter mit Unterstützung vieler Helferinnen in Äthiopien hergestellt, und zweimal die Woche direkt nach Zürich exportiert. Wie auch diverse Gewürzmischungen und Saucen. «Wir bezahlen ganz normal dafür», so Asnaqech. «Damit helfen wir meiner Mutter und den Familien der Frauen, und wir haben das authentische Produkt.» Alle anderen Produkte beziehen sie im Aligro. Es sei schwierig, reines Teffmehl hier zu verarbeiten. «Ich weiss nicht, woran es liegt. Am Wasser? Oder am Klima?» Sobald sie es mit Weizen mische, funktioniere es. So macht sie dieses oft privat für ihre Tochter, da diese das säuerliche Original nicht besonders mag.

Obwohl ihr Restaurant erst seit wenigen Monaten offen ist, läuft es gut. Mittags verköstigen sie mehrheitlich Schweizer und Schweizerinnen aus den umliegenden Büros. Ihr Mittagsmenü, ob vegetarisch oder mit Fleisch, kostet 20 Franken, inklu­sive Getränk. Von Montag bis Donnerstag sind sie zu 50 Pro­zent ausgelastet. Am Freitag hingegen seien alle im Home­office. Abends sind sie an Wochentagen zu 70 Prozent gebucht, an Freitagen und Samstagen meist voll. Ebenso sonntags tagsüber. Sie verkaufen zudem viel via Take-away, und stellen für Feiern und Leidmahle jeweils ein ganzes Buffet auf.

Im Gegensatz zu vielen anderen Restaurants haben sie nachmittags geöffnet. So kommen auch viele ältere Menschen vorbei, um ein Bier zu trinken, Zeitung zu lesen oder einen Kaffee zu geniessen. Sie sind ebenso Stammkunden, für sie ist das Addis Abeba eine wichtige Anlaufstelle für soziale Kontakte. Die Gastgeber nehmen sich Zeit, unterhalten sich mit ihnen. Manche kommen jeden Tag. Asnaqech ist ein Sprachtalent, sie spricht Arabisch, Französisch, Deutsch, Englisch sowie Amharisch und Oromo.

«Wir mögen die Schweiz»

Und plötzlich riecht es nach frisch geröstetem Kaffee. Es ist ein traditioneller Akt in jedem äthiopischen Restaurant, kurz mit den gerösteten Bohnen durch den Gastraum zu gehen. Die Gäste freuen sich jedes Mal wieder aufs Neue über die olfaktorische Sinneserfahrung. Und für die Gastgeber ist es fast eine Verpflichtung, schliesslich ist Äthiopien das ursprüngliche Herkunftsland von Kaffee.

Fehlt ihnen Äthiopien nicht? «Doch natürlich», antworten beide. «Aber wir mögen die Schweiz, die Menschen sind sehr respektvoll, und wir sind hier sicher.» Zeleks leben in und mit zwei Kulturen, und sie lieben die Schweizer Küche. «Fondue, Züri Gschnätzeltes oder Spätzli», sagt Yohanes. Seine Augen leuchten. Asnaqech lacht: «Oh ja, Spätzli! Und Yohanes Kürbissuppe. Seine ist die beste.»