«Eine Speisekarte lächelt dich nie an – ein Mensch schon»

Corinne Nusskern – 07. März 2024
Dass Sandra Marugg Suter vom Restaurant Schlüssel in Oberwil BL eine aussergewöhnliche Gastgeberin ist, erkannte auch der Guide Michelin und zeichnete sie 2023 mit dem Service Award aus. Mit ihrer charmanten Direktheit und gelebter Kompetenz schenkt sie jedem Gast ein Zuhause auf Zeit.

Wer die Tür zum Restaurant Schlüssel in Oberwil BL aufstösst, sieht zuerst in das strahlende Gesicht von Sandra Marugg Suter (55): «Schön, sit Ihr da», sagt die in Bern aufgewachsene Bündnerin. Erst dann nimmt man die lineare Coolness des gros­­sen Raums mit dem langen Tresen wahr, während das akzentuierte Interieur in gedeckten Farben, reduzierter Dekoration und mit sanft lodernden Kerzen Wärme kreiert. Hier verwöhnt die Gastgeberin und Sommelière, gemeinsam mit ihrem Mann und Küchenchef Felix Suter (62), ihre Gäste nach einem bereits vor 30 Jahren eingeführten Konzept, für das sie damals alle verrückt hielten: Es gibt nur ein Menü und keine Speisekarte. Dieses wird von der Chefin mit Passion und einem feinen Gespür für gehegte Erwartungen direkt am Tisch präsentiert. Was dann folgt: kulinarische Genüsse mit Wohlfühlgarantie.

Sandra Marugg Suter, sobald ein Gast zur Tür hereinkommt, beginnt Ihre Gastgeberrolle. Wie spielt sich dies ab?
Sandra Marugg Suter: Zuerst steht immer ein Lächeln. Es ist stets jemand vom Team präsent, damit sich die Gäste gleich willkommen fühlen, und denken: Wow, das ist wie heimkommen, hier komme ich gerne her, es ist warm und freundlich.

Wollten Sie schon immer Gastgeberin werden?
Ich bin in diese Branche wie in ein positives Schicksal hineingefallen (lacht). Ich hatte damals Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Doch ich bin unglaublich gerne mit Leuten zusammen, das hat mir dort ein bisschen gefehlt. So bewarb ich mich bei der Swissair, aber sie nahmen mich nicht. Da dachte ich, die kürzeste Ausbildung, um einen Fähigkeitsausweis zu erlangen, ist die Kurzausbildung im Gastgewerbe. Ich startete ein sechsmonatiges Praktikum im Restaurant Säge in Flüh, wo Felix wirtete – und blieb hängen. Seither sind wir dran.

Was bedeutet für Sie ein perfekter Service?
Den gibt es nicht. Felix und ich sind sehr selbstkritisch, wir setzen die Latte hoch. Auf der einen Seite steht das Herzliche und Menschliche, auf der anderen Seite haben die Gäste das Recht, dass alles konzentriert und fachkundig abläuft. Man muss wissen, was man verkauft, aber auch wie und warum. Wichtig ist, nie stehen zu bleiben, nur so bleibt es spannend.

Ist Empathie genauso wichtig wie ein korrekter Service­ablauf?
Es ist eine Kombi von beidem. Es ist elementar, einen korrekten und freundlichen Service zu bieten, aber ohne die Bodenhaftung zu verlieren. Man sollte konsequent den eigenen Weg gehen.

Und den sind Sie konsequent gegangen?
Ich denke schon. Ein Beispiel: Vor knapp 30 Jahren entschieden wir, nur noch ein einziges Menü anzubieten – ohne Speisekarte. Und zwar aus Überzeugung, da Felix mit den hohen Ansprüchen an sich selbst, zusammen mit dem sogenannten À-la-carte-Kochen, das Gefühl hatte, diesem nicht gerecht zu werden. Da wussten wir, dass wir etwas ändern müssen. Für uns war es etwas irrsinnig Gutes, während das Umfeld sagte: Vergesst es, das funktioniert nicht. Doch wir waren von diesem Konzept überzeugt und haben es mit Empathie durchgesetzt. Heute ist genau dieses in vielen Betrieben gängig, was auch Sinn macht.

Dann sind Sie die wandelnde Speisekarte?
Ja, ich bin quasi die Trudi Gerster der Küche (lacht). Alle vier Wochen wechseln wir das Menü. Unser Credo heisst «Verfeinerung des Einfachen», wo immer möglich saisonal-regional und nachhaltig-raffiniert. Abends sind es vier Gänge, der Businesslunch am Mittag besteht aus drei Gängen, stets anpassbar auf Vegetarierinnen und Al­lergiker, bis hin zum von Felix gebackenen glutenfreien Brot. Gibt man Gästen eine Speisekarte, bestellen sie meist, was sie bereits kennen. Wir jedoch haben Gäste, die Dinge essen, die sie sonst nie bestellt hätten, und hinterher total begeistert sind. Das ist ein grosses Vertrauen, das sie uns entgegenbringen. Und, was ich unglaublich schön finde: Eine Speisekarte lächelt dich nie an – ein Mensch schon. Allein durch den Augenkontakt nehme ich beim Erzählen des Menüs nonverbale, feine Reaktionen bei den Gästen wahr und kann darauf eingehen: «Oh, ich glaube, Sie mögen Fisch nicht besonders?» Der Austausch ist auf diese Weise viel intensiver, man steht da bereits ganz fest in Kontakt miteinander. Ich mache es wahnsinnig gerne!

Das Beschreiben und Servieren eines Gerichts sind dessen Inszenierung. Fehlte diese, würde Essen doch nur halb so viel Freude machen!
Beim Essen gibt es, wie im Theater, diverse Arten von Inszenierungen von der klassischen bis zur modernen Interpretation. Neben dem Kulinarischen spielt auch die Atmosphäre eine wichtige Rolle. Wir versuchen, eine Wohlfühloase zu schaffen, sehr linear, aber warm, ein modernes Restaurant, mit vielen Kerzen. Meine Eltern hatten ein Porzellangeschäft, da bin ich vorbelastet mit einem Faible für schöne Teller. Essen und Genuss ist etwas Sinnliches und spricht alle Sinne an! Es ist sehen, riechen, schmecken, manchmal tasten und auch hören.

Als Gastgeberin sind Sie wohl auch Seismograf für Stimmungen: Können Sie Gäste lesen?
Ich glaube schon. Das ist eine Erfahrung durch die Hunderttausenden von Situationen. Dafür entwickelt man ein Gespür. Was in der heutigen Zeit enorm wichtig ist: Ruhe zu kreieren und Hektik abzubauen. Manche Leute sind auf 180, wenn sie hereinkommen. Da versuchen wir, eine Insel zu schaffen, damit sie abschalten können, und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie hier an einem Ort sind, wo sie einfach nur sein dürfen, um den Moment zu schätzen und zu geniessen.

Wer sind Ihre Gäste?
Wir sind dankbar, stolz und glücklich, dass wir ein wirklich sehr breit gefächertes Gästepublikum haben. Und jede und jeder von ihnen ist genau gleich wichtig. Die meisten Gäste kommen auf Reservation. Aus der Stadt, aus der Region, Durchreisende aus den Niederlanden oder Deutschland, die immer wieder bei uns halten. Rund 95 Prozent unserer Gäste sind Stammkunden, viele von ihnen wurden zu Freunden. Und wir sagen unseren Gästen, dass wir die besten Gäs­te haben. Es stimmt aber auch! Wir ziehen Leute an, die das Heu auf der gleichen Bühne wie wir haben. Dafür haben wir lange gearbeitet.

Lernt man auch von den Gästen?
Sehr viel, absolut! Ich bin heute tolerant, konsequent und zufrieden. Da haben unsere Gäste ganz sicher auch ihren Teil dazu beigetragen, wie auch unsere Mitarbeitenden und der «Schüssel» generell. Sie alle haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin.

Aber es gibt doch manchmal einfach schwierige Gäste!
Ja, aber das ist ein Reifungsprozess. Früher wollte ich es allen recht machen. Das geht nicht! Je authentischer man selbst ist, desto ehrlicher kommt es zurück. Wir leisten Dienst, aber nicht um jeden Preis. Aber ganz ehrlich? Solch schwierige Gäste haben wir nicht mehr. Die gehen woanders hin. Würden wir alle etwas ehrlicher und direkter miteinander sein, eckt man vielleicht erst mal an, aber das ist egal, vielleicht kommt so etwas ins Rollen. Heute können wir unsere Philosophie mit den neun Tischen leben, das geht für uns wunderbar auf und wir sind für uns zufrieden. Wir wohnen hier im Haus, und an den Tagen, an denen das Restaurant geöffnet ist, sind wir 15 Stunden am Tag hier. Felix ist immer der Erste, ich bin immer die Letzte. Das schätzen die Gäste sehr.

Das wahre Gastgebersein – kann man es lernen oder muss man es im Blut haben?
Glück ist, wenn man etwas machen kann, das man gerne macht. Man muss aber darauf achten, dass es so bleibt – das ist die Herausforderung. Ich glaube, wenn man es im Blut hat, ist es «saugäbig» (lacht). Für das «Dienst leisten» muss man gemacht sein. Falls nicht, sollte man etwas anderes machen – oder man hat es wahrscheinlich sehr schwer.

Woher kommt Ihr Wunsch, anderen Menschen eine Freude zu bereiten?
Freude und Leidenschaft sind elementar. Manche Leute denken nur an sich und gehen umher, als hätten sie das Recht auf weiss ich nicht was. Da täte es gut, etwas zurückzukrebsen und zu realisieren, wie privilegiert wir sind, und dies mehr zu schätzen und nicht als selbstverständlich anzunehmen. Alles andere ist ein Rennen in die Einbahnstrasse. Demut ist für mich etwas ganz Wichtiges. Während Corona hat man es für einen Moment begriffen. Versuchen, kurz nebenan zu stehen, hilft manchmal.

Welche Strategien kommen zur Anwendung, wenn Sie mal einen schlechten Tag haben?
Das kommt so selten vor. Ich mache morgens Yoga. Da ich so oft von Leuten umgeben bin, brauche ich Zeit für mich. Dadurch bin ich relativ ausgeglichen. Wenn mir etwas nicht passt, sage ich es jeweils gleich. Dann ist es draussen, und gut ist (lacht). Im Gegenzug lasse ich öfter mal die Fünf gerade sein, das kann ich heute viel besser als früher.

Letztes Jahr erhielten Sie den Michelin Service Award, was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?
Eine Riesenwertschätzung! Da war ich sprachlos - und das passiert mir selten.

Den Köchen wird oft stärker gehuldigt als dem Service. Stört Sie das?
Das hat etwas. Aber das eine geht nicht ohne das andere. Manchmal bekommt man in einem Restaurant das beste Essen, doch der Service ist schlecht, dann macht es keine Freude. Umgekehrt natürlich auch nicht. Werde ich beim Eintreten in ein Restaurant nicht begrüsst, dann gehe ich wieder. Ein kurzes «Schön, dass sie hier sind», das kostet doch nichts, auch wenn man kaum Zeit dafür hat. Wenn meine Mitarbeitenden im Stress sind, rate ich ihnen, kurz innezuhalten und zu lächeln.Das funktioniert wunderbar.

Sie arbeiten mit einem jungen Team, ist Personalmangel kein Thema?
Eigentlich nicht. Unser ältester Mitarbeitende ist 27, die meisten bleiben lange bei uns. Es gingen auch bei uns schon Türchen zu, aber es ging immer wieder eines auf.

Doch generell fehlt der Nachwuchs im Service, wie bringt man junge Leute in den Beruf?
Das Allerallerwichtigste ist die Motivation! Und das Vorleben. Service ist so etwas Tolles, es sind so viele Bereiche, die man abdecken kann. Ich möchte, dass die jungen Menschen, die diesen Beruf ausüben, darauf stolz sind und es auch zeigen. Man muss die Wertschätzung für den Serviceberuf fördern, die Bezahlung und die Arbeitszeiten müssen stimmen. Man muss echt etwas spinnen, um diesen Job zu machen … aber wenn man es gern und mit Herzblut macht? Es ist unglaublich, was ich jeden Tag zurückbekomme, es ist so viel. Es ist nicht kompliziert, ein Lächeln auszusenden, und es kommt so viel zurück.

Was halten Sie von Servicerobotern?
Zu mir kommt keiner (lacht). Es wird so viel wegrationalisiert …das ist erschreckend schade. Aber wenn sich in Gastronomiebereichen keine Leute finden, was soll man tun?

Was treibt Sie nach so vielen Jahren an, und wo möchten Sie noch hin?
Felix und ich möchten die Zeit, die wir noch hier im «Schlüssel» sind, zusammen mit unseren Gästen und unseren Mitarbeitenden bewusst geniessen. Und wenn man dieses «Dienstleisten» mit Herzblut, Freude und Überzeugung machen kann und es nie spielen muss, weil man es einfach gerne macht, dann ist es das Grösste, das einem passieren kann. Wenn ich es je spielen müsste, höre ich auf!