«Ich hätte nie gedacht, dass kein einziger nach Hummer oder Foie Gras fragen würde»

Reto E. Wild – 24. April 2024
Stefan Beer verfolgt mit seinem Restaurant Radius im Victoria-Jungfrau den Weg, Produkte aus einem Umkreis von 50 Kilometer zu verwenden. Er hat damit Erfolg: Der 45-jährige Familienvater ist Bilanz-Koch des Jahres 2022 und kann sich über steigende Auslastungen freuen. Sein Ziel für dieses Jahr trotz schwerem Velounfall: sich bei Michelin und GaultMillau zu steigern.

Stefan Beer, Ihr Gourmetrestaurant Radius heisst so, weil Sie Zutaten aus einem Radius von 50 Kilometer ab Interlaken BE verwenden. Wie kam es zur Idee?
Stefan Beer: Ich wechselte als Executive Chef des Intercontinental Dubai Marina in die Schweiz und hatte im Januar 2016 die Verantwortung für sämtliche Restaurants im Victoria-Jungfrau übernommen. Als ich in Interlaken startete, hatte ich 0 Kontakte zu Lieferanten, wollte aber sehr lokal kochen. Am 1. August 2018 starteten wir mit dem Menü «Vo Hie», das damals nur eine Sparte in unserem Restaurant La Terrasse war. Doch die Gäste wollten verstärkt unseren Fünfgänger statt Foie gras. Wir rechneten am Anfang nicht mit diesem Erfolg und mussten im Winter die Lebensmittel zusammenkratzen. Ende September 2022 haben wir das Radius by Stefan Beer eröffnet.

 

Wie fanden Sie die lokalen Produzenten ohne Kontakte?
Das war sehr schwierig. Die Produkte wurden uns nicht nachgeworfen und ich behaupte, dass alle unsere heutigen Lieferanten im positiven Sinn Charakterköpfe sind, die ich auf meine Seite bringen musste. Inzwischen kann ich sagen, ich hätte gerne zwei Alpsäuli, und es klappt sehr gut. Es sind Partnerschaften entstanden. Anfangs fragte ich beispielsweise eine Mutter eines Kindergartenfreunds meines Sohnes. Nach einer Woche gab sie mir ein Blatt mit Adressen. Mir hat geholfen, dass ich auf einem Bauernhof aufgewachsen bin und so schnell den Zugang zu den Menschen fand. Es ist erstaunlich, dass wir auch heute noch neue Produzenten entdecken. Das war vor einem halben Jahr Safran aus Konolfingen BE. Von Mai bis September haben wir die Hechte unseres Fischers Marco auf der Karte.

 

Wie lässt sich denn Ihr Konzept im Winter durchziehen?
Das funktioniert auf unserer relativ kleinen Karte sehr gut. Fisch, Fleisch und Geflügel sind sowieso kein Problem. Dazu kommt Lagergemüse. Der Rest ist Eingemachtes. Nur müssen wir jeweils im Frühling den Winter planen.


Hatten Sie keine Angst, mit dieser Konsequenz Stammgäste zu verärgern?
Tatsächlich wollen in einem Grandhotel wie dem Victoria Jungfrau Gäste auch mal Hummer essen. Ich hatte deshalb anfangs Gewissensbisse und tauschte mich mit Hoteldirektor Peter Kämpfer aus. Ich rannte bei ihm offene Türen ein. Er sagte, ich soll damit starten. Den Stammgästen erklärten wir, dass der Steinbutt nicht mehr auf der Karte ist. Wir fragten sie aber morgens, ob wir den Fisch trotzdem für sie zubereiten sollen. Ich hätte nie gedacht, dass kein einziger nach Hummer oder Foie Gras fragen würde. Wir haben keine zehn Steinbutte verkauft.

 

Wie lautet Ihre Philosophie?
Alle Zutaten stammen aus einem Umkreis von 50 Kilometern. Mir geht es darum, mit kleinen Bauern zusammenzuarbeiten, die ihr Handwerk pflegen und für beste Qualität sorgen. Wenn immer möglich, wählen wir beispielsweise einen Bauern aus, der nur einen einzigen Käse herstellt. Das dry aged Entrecôte im aktuellen Menü stammt aus Grundbach oberhalb von Wattenwil am Fuss des Gurnigel. Reto Balsiger ist ein sehr leidenschaftlicher Metzger. Der Schaum dazu besteht aus Ingwer aus Uetendorf. So können wir Geschichten erzählen. Mir ist wichtig, dass ich normalerweise mindestens zwei Gänge am Tisch persönlich serviere.

 

Und der schwarze Pfeffer bildet eine Ausnahme?
Es gibt ein paar Ausnahmen. Alles innerhalb des Umkreises zu beziehen, ist nicht möglich. Der Zucker kommt beispielsweise aus Aarberg BE, das Salz aus Bex VD. Aber praktisch alles, was unsere Gäste auf dem Teller sehen, ist «vo hie».


In Ihrem Hotelgarten wachsen 50 verschiedene Kräuter.
Wahrscheinlich sind es mehr und nicht jedes Jahr die Gleichen. Dazu kommen Beeren, Apfel-, Birnen-, Quitten-, Mirabellen- und Nussbäume, Hagebutten, und wir haben unsere eigenen Bienenvölker im Garten.

 

Zur warmen Jahreszeit ist die Produktevielfalt grösser. Andererseits ist der dunkle Raum des Radius eher für die kühle Jahreszeit geeignet. Was habt Ihr für diesen Sommer vor?
Wir sind noch immer in einer Experimentierphase. Zuerst wollten wir das Radius auf der Jungfrauterrasse aufbauen. Doch die Wege bis zur Küche sind zu weit. Ein neues Restaurant braucht immer einen Moment, bis es im Hotel angekommen ist. Inzwischen zeigt unsere Kurve aber nach oben. Teilweise erhalten wir weit im Voraus Reservationen.


Wie sehr schmerzt Sie es, dass asiatischer Einfluss – mit Ausnahme des Kimchi – in Ihrer Küche praktisch nicht mehr vorkommt, obwohl sie dort jahrelang gearbeitet haben?
Das fällt mir leicht. Denn meiner Meinung nach funktioniert Fusion kaum. Das haben nur wenige Köche auf der Welt geschafft. Zum Teil fällt mir der Einfluss aus Asien in unseren Gerichten nicht auf. Als wir einmal ein mehrfach geräuchertes Säuli servierten, sagte ein chinesischer Gast, es schmecke wie bei ihm zuhause. Mir ist die Verbindung erst dann bewusst geworden.

 

Wie viel Freiheit haben Sie unter Hotelbesitzer Michel Reybier?
Er unterstützt uns enorm, ohne Einschränkungen. Nicht mal zu unserer Begleitung mit Berner Weinen hat er was gesagt, obwohl er mehrere eigenen Weingüter besitzt. Für ihn ist Nachhaltigkeit sehr wichtig. Und so schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe. Bei mir war nicht die Nachhaltigkeit das Hauptziel, sondern beste Qualität und regionale Produkte zu zelebrieren.

Victoria Jungfrau

Das Grandhotel Victoria Jungfrau in Interlaken BE. (Bild: PD)

Was haben Sie von Ihrem Vater aus Spiez gelernt, der ebenfalls als Koch arbeitete?
Die Liebe zum Handwerk. Ich bin die ersten Jahre meines Lebens in der Nähe von Spiez aufgewachsen. Als ich vier, fünf Jahre alt war, sind wir als Familie in den Aargau gezogen, wo meine Eltern zwischen Lenzburg und dem Hallwilersee ein Restaurant übernommen hatten. So bin ich zusammen mit meinen zwei Brüdern in der Küche aufgewachsen. Meine erste Arbeit als Kind war Kartoffelschälen, was ich beruhigend fand. Wahrscheinlich hinterliess ich eine Sauerei, mit der mein Vater mehr zu tun hatte, als was ich mitgeholfen habe. Auf einem Bauernhof meiner Tante und meines Onkels in Hendschiken AG kam ich während den Sommerferien erstmals mit dem Produkt Fleisch und Gemüse in Berührung. So verstand ich, wie wichtig Qualität ist.

 

Vergangenes Jahr erhielten Sie im Radius einen Michelin-Stern sowie einen grünen Michelin. Wie sehr hat Sie das überrascht?
Ich habe eine Einladung an die Verleihung nach Lausanne erhalten und wusste, dass es eine Auszeichnung gibt. Den Michelin-Stern hätten wir gerne schon im La Terrasse erreicht. Dort gibt es aber 100 Sitzplätze.


Was bedeutet Ihnen der Stern?
Viel. Er ist wichtig fürs Restaurant, das Team und die Besitzerschaft, eine schöne Anerkennung und ein Ansporn.


Mitte März 2024 hatten Sie einen schweren Velounfall auf Mallorca. Was ist passiert?
Ich bin ein begeisterter Hobbyvelofahrer. Der Sport hilft mir beim Abschalten und Kreativ sein. Am ersten Tag meiner Veloferien bin ich nach 50 Kilometern mit einem Auto zusammengestossen. Auf der Insel wurde ein zersplitterter Oberarmknochen diagnostiziert. Nach einem schmerzhaften Rückflug in die Schweiz musste ich in den Notfall, wo festgestellt wurde, dass ich nicht nur den Oberarm verletzte, sondern auch das Schultergelenk, das zudem ausgekugelt war. Ob ich stehe oder liege: Ich habe noch immer furchtbare Schmerzen. Da muss ich durch. Ich habe keine Wahl.

 

Sie wollten einst Veloprofi werden. Nun hat es nur zum Gang Paris-RubEgg auf Ihrer Karte gereicht.
(lacht). Für mich war sehr früh klar, dass es für mich nur einen Weg gibt: Veloprofi. Im entscheidenden Jahr meiner Karriere fand die Skandal-Tour-de-France statt. Damals war ich naiv und dachte, der Radsport sei der sauberste der Welt. In der Schweiz haben wir das Privileg von Berufslehren. So konnte ich mich entscheiden, dass der Radsport der späten 1990er Jahre nicht das ist, was ich zum Beruf machen wollte. Seit dann war Velofahren für mich nur noch Hobby.

 

Wie ist es möglich, dass die Küche ohne Ihre Präsenz so tadellos funktioniert?
Im Grand Hyatt Erawan in Bangkok hatten wir 15 gastronomische Einrichtungen – von der Sandwichbar bis zum Bankett. Da kann man nicht überall präsent sein, muss sich organisieren und Prioritäten setzen, wo physische Präsenz nötig ist. Es nützt nichts, wenn ich der Star in der Küche bin und für das Bankett für 300 Gäste den gleichen Massstab anwende. Dann scheitere ich garantiert. Im Victoria-Jungfrau kann ich ein Menü so zusammenstellen, dass es funktioniert. Ich habe in den jeweiligen Restaurants Radius, Sappori und La Terrasse Küchenchefs. Sarah Tombolelli ist beispielsweise seit März im Radius in dieser Position und arbeitet schon seit vier Jahren mit mir. Ich habe überall Stellvertreter mit Selbstvertrauen, die wissen, wie der Chef tickt. Es muss auch ohne mich gehen. Wenn es nur funktioniert, wenn der Chef hier ist, ist es nicht richtig organisiert.

 

Wie gross ist das Team?
Wir sind je nach Saison gut 60 Mitarbeitende inklusive der Frühstücksköche, Lehrlinge und Abwäscher.

 

Ihre Ziele dürfte für dieses Jahr sein, zuerst wieder gesund zu werden. Und wie sieht es beruflich aus?
Wir wollen, dass alle Gäste zufrieden sind und wir so wirtschaftlich wie möglich arbeiten. Klar, wir hätten gerne den Föifer und s'Weggli und die Tochter vom Bäcker. Doch wir haben viel Erfolg mit den Bewertungen auf Google und anderen Plattformen. Unsere Gäste sind sehr glücklich. Und wir wollen uns sowohl bei GaultMillau und Michelin verbessern - aus lauter Bescheidenheit!