«Die Gastronomie könnte sich so eine Nische aufbauen»

Reto E. Wild – 21. März 2024
Eine Karte mit gelagerten Weinen ist ein Alleinstellungsmerkmal – und kann Gäste in die Betriebe locken. Anna Zimmermann vom Stadtzürcher ­Restaurant Lotti setzt mit Erfolg auf diese Nische. Kultwinzer Gian-Battista von Tscharner aus Reichenau in der Bündner Herrschaft verfügt über ein Archiv von 7000 Flaschen und gehört zu den Lieferanten.

Auf dem Fenstersims stehen leere Flaschen wie etwa eine Riesling Spätlese 2010 von Gantenbein, eine Petite Arvine 2012 von Denis Mercier, der Blauburgunder Gian-Battista von Tscharner 2009 oder ein Fendant 2015 von Marie-Thérèse Chappaz. Auch auf den beiden Weinschränken im hinteren Bereich des Restaurants sind zahlreiche ausgetrunkene Flaschen grosser Namen aufgestellt. Sie lesen sich wie das Who’s Who der Schweizer Starwinzer und verraten die Weinkompetenz des Betriebs. Wir befinden uns im Restaurant Lotti am Werdmühleplatz in der Zürcher Innenstadt – nur ein paar Fussminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Hier dominiert viel Holz, Tischtücher gibt es nicht. Die Küche ist regional und saisonal.

Pächterin Anna Zimmermann (34) leitet das florierende Restaurant in einer Liegenschaft der Stadt Zürich seit 2017 mit je 85 Innen- und Aussenplätzen. Sie startete mit 27 Jahren in die Selbstständigkeit. Das sei rückblickend schon «crazy», kommentiert Zimmermann, die ihre Karriere mit einer KV-Lehre im Medien- und Verlagswesen lancierte und sich während der BMS in der Gastro- und Kommunikationsbranche einarbeitete. Das Restaurant habe viele Gesichter – je nach Tageszeit. «Wir starten mit Kaffee und Kuchen und vielleicht einem Glas Chasselas. Mittags wird je länger, desto mehr zu den Menüs ein Glas Wein genossen – vor allem gegen Ende der Woche.» Nachmittags, so Zimmermann weiter, würden sich Gäste zu Apéro mit Schaumwein einfinden. «Und abends kommen Fleischfans wegen unseren Steaks, Vegis freuen sich über die Alternativen. Weinfreaks wählen uns wegen den Flaschen mit hoher Qualität. Wir stehen für Vielfalt.»

Im Keller des Lotti lagern viele rare Flaschen. «Mindestens 80 Prozent sind Schweizer Weine, wir haben aber auch Weine aus den Nachbarländern, etwa Riesling aus Deutschland oder gereifte Raritäten aus Frankreich und Italien», erklärt sie.

Ihr Vater René Zimmermann wirtete von 1996 bis Ende 2021 in der stadtbekannten Wirtschaft Neumarkt und schuf sich einen Namen für ehrliche Küche und gelagerte Weine zu fairen Preisen. Sein Credo: Hochwertige Weine brauchen Zeit, bis sie ihre wahre Grösse zeigen. Und: Die meisten Weine werden zu jung getrunken. Der Pionier hat immer wieder das Vorurteil widerlegt, wonach beispielsweise Schweizer Weissweine kein Alterungspotenzial haben.

René Zimmermann: «Wir haben viel Freude an spannenden Weinen, die sich in verschiedenen ­Altersstufen zeigen. Mit der Zeit gewinnen diese Weine einen kompletten Körper.» Seine Tochter und Lotti-Chefin freut sich: «Wir konnten auf den Keller meines Vaters zurückgreifen, was für uns eine einmalige Chance war. Diesen Schatz nicht zu nutzen, würde keinen Sinn ergeben.» Schweizer Weine seien schon immer ihr Zuhause gewesen.

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Gian-Battista (r.) und Johann-Baptista von Tscharner. (Bild: zVg)

Der Nerd, der sich mit Geschmack und Textur beschäftigt

Sie bewege sich sehr gerne in dieser Genusswelt, sagt Zimmermann und bezeichnet sich als Genussmensch «durch und durch». Schon seit ihrer Kindheit liebe sie Sensorik. Sie hat sich an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in diesem Bereich weitergebildet. Sie befasse sich auch heute noch mit Texturen und allem, was zur Wahrnehmung dazu gehört. Eine hausgemachte Schoggimousse im Lotti sei wie Tag und Nacht im Vergleich zu einer aus der Migros. Das habe nicht mit dem Geschmack allein zu tun, sondern auch mit der Textur. «Ich bin ein Nerd. Wenn ich dem See entlang spaziere, muss ich an den Blüten riechen. Im Restaurant errate ich gerne Gewürze und Zutaten.»

Zurück zu den gelagerten Weinen: Immer wieder sagen Unternehmer, diese brauchen Platz und Geld. «Der Wein­einkauf hat sich verändert. Wenn ich so einkaufen würde, wie es damals mein Vater tat, würde es nicht funktionieren», argumentiert die Gastgeberin. Das Weinland Schweiz befinde sich in einem Generationenwechsel. Das mit der Lagerung verändere sich. Viele Weine sind «bereits jünger schon an einem sehr guten Punkt. Dann braucht das weniger Budget». Aber klar, ein guter Keller, Platz und Geld seien wichtig – und ein ständiger Austausch mit den Winzern, die beim richtigen Trinkzeitpunkt beratend zur Seite stehen. «Gerade bei Schweizer Wein ist das relevant. Denn wenn ein Gast nach einem Glas Chasselas im Offenausschank enttäuscht ist, bestellt er diesen nicht mehr. Doch ist er von einem Glas Fendant von Marie-Thérèse Chappaz oder Féchy von Laura Paccot begeistert, bestellt er ihn wieder, weil er ganz einfach saugut ist.» Im Lotti befinden sich selbst Weine im Offenausschank in der richtigen Reife.

Der Deziliter dieses Fendant 2017 von der Walliser Starwinzerin kostet im Lotti 10.30 Franken, die Flasche 68 Franken. Zimmermann kalkuliert nach der Devise: «Je lässiger und rarer der Wein ist, desto besser ist unser Preis-Genuss-Verhältnis. Mit Pauschalen arbeiten wir nicht.» Der Beizerin ist es hingegen wichtig, tolle Weine zu einem fairen Preis anzubieten. «Bei uns bekommst du einen Gantenbein 2016 für weniger Geld, als wenn du diesen Wein im Globus einkaufen würdest.» Ein Spitzengewächs wie der Sassi Grossi 2014 kostet 93 Franken, der Grain Syrah 2012 von Chappaz 107 Franken oder Gantenbein Pinot Noir 2011 180 Franken, was Weinfreaks gerne hinblättern. Werden solche Flaschen geöffnet, kommt im Lotti ein Durand-Korkenzieher zum Einsatz, denn bei konventionellen Geräten bleiben die Korken gelagerter Weine bekanntlich manchmal stecken oder reissen ab.

Zimmermann mag privat autochthone Rebsorten aus der Schweiz, Schaumweine wie deutschen Sekt sowie Schweizer Schäumer von Adank, Catherine Cruchon oder Laura Paccot. «Was wir auf der Weinkarte und im Offenausschank anbieten, trinken wir im Team privat auch gerne. Ich mag die Vielfalt dieser Weine und trinke am liebsten nur zwei Schlucke von einem schönen Wein und dann einen von einem anderen. Beim Essen arbeiten wir genau gleich. Privat essen wir nur Schweizer Fleisch. Deshalb ist es für uns selbstverständlich, dass wir nur dieses im Lotti servieren.» Das Restaurant kann einen weiteren nachahmenswerten Joker ausspielen: In Zusammenarbeit mit dem Weingut Schwarzenbach aus Meilen ZH wird der B.B. x Lotti angeboten. Winzer Alain Schwarzenbach hat exklusiv für das Restaurant einen eigenen Wein im grossen Holzfass ausgebaut. Zimmermann betont: «Wir verkaufen ihn als Lotti-Blauburgunder. Diesen Wein gibt es nur bei uns. Die Herkunft ist das A und O.»

Für die rund zwei Dutzend Mitarbeitenden organisiere sie regelmässig Weindegustationen und Anlässe mit Ausflügen in Restaurants rund ums Thema Wein. Viele Mitarbeitende hätten Träume, Ideen und Vorschläge zur Weiterentwicklung des Lotti. «Das ist für uns enorm wichtig.

«Wir nehmen den Betrieben die Arbeit ab!»

Winzer Gian-Battista von Tscharner (75), Botschafter der Genusswoche 2024, ist überzeugt: «Die Gastronomen könnten sich eine Nische mit rund zehn Provenienzen gelagerter Weine aufbauen. Das wäre auch finanziell möglich. Diese Flaschen könnte man zu einem Preis verkaufen, der gerechtfertigt ist.» Er selbst geht mit seinem Sohn Johann-Baptista (38) mit gutem Beispiel voran. Das Weingut aus der Bündner Herrschaft verkauft die eigenen Weine bewusst spät. Erst diesen Frühling geht der Jahrgang 2020 in den Verkauf. Bis im November 2024 werden alle Weine verkauft sein. Er habe Gastronomen als Kunden gehabt, die diese Philosophie nicht verstanden hätten. «Wir nehmen den Betrieben ihre Arbeit ab!» Das Weingut könnte im Nu sämtliche Jahrgänge verkaufen. Die Nachfrage sei hoch, sein Sohn bleibe aber eisern. «Unser Archiv besteht aus rund 7000 Flaschen. Von jedem Wein, den wir abfüllen, legen wir mindestens 12 Flaschen auf die Seite und verkaufen diese nicht.» Bei 11 verschiedenen Traubensorten, aus denen 20 edle Bündner Weine und sortenreine Destillate entstehen, kommt so ganz schön was zusammen. Für Gruppen oder Pinot­fans werde dann mal eine gelagerte Flasche kredenzt, was für viel Begeisterung sorge.

Sein Churer Blauburgunder Gian-Battista ist Teil des Vereins Mémoire des Vins Suisses mit einer Schatzkammer von gegen 30 000 Flaschen. Die Organisation hat sich die Einzigartigkeit und Lagerfähigkeit von Schweizer Weinen auf die Fahne geschrieben. «Diese Grundidee ist einzigartig in der Welt», lobt von Tscharner. Er, der 1969 ein Praktikum in Chexbres im Lavaux VD absolvierte und mit einem Jahrgang 1976 seine Winzerkarriere startete, bestätigt, dass sich der Markt gewaltig verändert habe. Früher hätten Restaurants bis zu 200 Flaschen bestellt. Jetzt seien es noch 3 oder 6 Flaschen. «Ohne Zwischenhandel kämen wir nicht über die Runden.» Er profitiert von Gastronominnen wie Anna Zimmermann, die seine Philosophie teilen, was zu einem Gewinn bei Betrieben und Gästen führt.